ORGANISATION & ENTWICKLUNG
Nichts ist in Unternehmen knapper als Zeit. Warum individuelles Zeitmanagement nicht hilft und was man stattdessen tun sollte, damit die ganze Organisation mehr Zeit für das Wesentliche hat.
Wer auf der Suche nach einem freien Zeitfenster durch die Terminkalender seiner Kolleginnen und Kollegen scrollt, findet ein solches oft erst im nächsten oder gar übernächsten Monat. Nichts, so könnte man meinen, ist in Unternehmen rarer als Zeit. Was Zeit angeht, laufen wir alle «auf dem letzten Zacken». Von Reserven keine Spur. Die Vertreterinnen und Vertreter des Zeitmanagements sehen die Verantwortung für die Zeitknappheit beim gestressten Individuum und haben gute Ratschläge parat: Du musst das, was dir wichtig ist, einfach klarer priorisieren, es in deinem Terminkalender rot eintragen und «Nein» sagen lernen. Was sie nicht berücksichtigen, ist die Tatsache, dass das Individuum nicht auf einer Zeitinsel lebt, sondern Teil eines sozialen Gefüges ist. Unser Umgang mit Zeit ist weitaus stärker von unserem Umfeld geprägt als selbstbestimmt gewählt. Zeitmangel ist ein soziales Phänomen.
Der Organisationssoziologe Niklas Luhmann hat dies bereits in den 1960er-Jahren beobachtet und kam zu dem Schluss: Unternehmen folgen dem Primat der Dringlichkeit. Was kollektiv mit Terminen und Deadlines versehen wird, geniesst prinzipiell Vorfahrt. Alles andere kann jederzeit beiseitegeschoben werden. Wer also allein für sich an einer Aufgabe arbeitet, hat in den Augen der anderen freie Zeit, die er bei Bedarf zur Verfügung stellen muss. Die kollektive Terminfixierung schafft aber nicht nur für das Individuum Probleme, sondern auch für das Unternehmen. Denn alle Vorhaben, die nicht gemeinschaftlich terminiert sind, haben geringe Chancen, realisiert zu werden. Häufig betrifft das Aufgaben, deren Nutzen sich erst in der Zukunft zeigt, wie neue Ideen zu entwickeln, gemeinsam Learnings aus einer Projektphase zu ziehen oder an der Neuausrichtung des Teams zu arbeiten.
Sind Organisationen also rettungslos im Dringlichkeits-Dilemma gefangen oder gibt es einen Ausweg? Interessanterweise hat Luhmann Organisationen genau die Lösung empfohlen, die das spätere Zeitmanagement dem Individuum ans Herz legt: Nämlich alles Wichtige – inklusive individueller Entwicklungsarbeit – mit gemeinsam vereinbarten Terminen zu versehen und es damit unter den kollektiven «Schutz der Dringlichkeit» zu stellen. Dazu gehören auch Pausen, Reflexionszeiten, Pufferzeiten. Denkt man diesen Ansatz weiter, geht es um nichts Geringeres als um einen gemeinschaftlich vereinbarten sinnvollen Umgang mit Zeit. Eine Zeit-Kultur.
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